Erlebnisbericht von Marco Bertschinger, Killwangen

Von einem Gümmeler, der auszog, ein Randonneur zu werden.

"Quäl dich, du Sau" so schrie Udo Bölts Jan Ullrich zum Toursieg. Das war 1997. Ein Jahr später verlor er an ziemlich genau dieser Stelle die Tour, als Marco Pantani angriff und ihn stehen liess.

In diesem Moment, wo mir diese Gedanken durch den Kopf schiessen, bin ich am Kerenzerberg. Mein Fahrradcomputer zeigt: Kilometer 407, momentane Steigung 5,8%, Temperatur 12 Grad, Puls 132. Es regnet in Strömen. Und das - abgesehen von einem längst vergessenen Unterbruch zwischen Koblenz und einigen Kilometern vor Ramsen, Etappe 4, - mehr oder weniger stark seit dem Start um 13 Uhr in Bern.

Beim Fahren in den 2 kleinsten Gängen, die ich jetzt unbedingt brauche, kratzt meine Kette immer tiefere Furchen in meinen Umwerfer. Nebst dem Nachteil grösserer Gänge, bedingt durch mein 2-faches Kettenblatt, im Vergleich zu anderen BBB-Teilnehmern, die meist mit 3-fach-Kurbelgarnituren unterwegs sind, kommt nun noch dieses Handicap hinzu. Und das kostet Kraft, viel Kraft. Schon nach den ersten hundert Höhenmetern muss ich Ruedi, mit dem ich vor rund 16 Stunden gestartet bin, ziehen lassen.

Ruedi Frey, ein erfahrener Randonneur, mit dem ich im letzen Jahr beim Wysam über 333 Kilometer rund 6 Stunden zusammen gefahren bin, der beim BBB bereits 2 Mal gefinisht hat und sich dieses Jahr einmal mehr dieser Herausforderung stellt, wird in Pfäffikon auf mich warten.

Doch vorerst bin ich ganz alleine mit meinen Problemen unterwegs.
Passiert ist es in einem kleinen Anstieg vor Sargans. Ich schalte vom grossen auf das kleine Kettenblatt. Ein knallartiges Kratzgeräusch durchdringt das Zischen der sich durch die nasse Strasse quirlenden Räder. Dabei verklemmt sich die Kette zwischen Umwerfer und Kettenblatt. Instinktiv versuche ich diese durch vorsichtiges Rückwärtstreten zu deblockieren, was auch gelingt. Gott sei Dank, ich kann wieder treten! Trotz erheblichen Schaltproblemen, begleitet von lauten Streif- und Schleifgeräuschen, erreiche ich den Checkpoint, eine Opel-Garage.

Es ist 5 Uhr morgens, und es wird zusehends heller. Die Nacht, die Lange, ist überstanden.
Nicht nur für uns Radfahrer, sondern ebenso sehr für meine liebe Frau Dana, die uns mit dem Auto - wir fahren anfänglich zu viert, später noch zu dritt - von Ramsen, 22 Uhr 30, über österreichische und liechtensteinische Landen bis hin nach Sargans stets hinterher gefahren ist und uns die Strasse ausgeleuchtet hat. So sind wir sicherer und letztlich auch schneller voran gekommen. Mein Compi zeigte meist Geschwindigkeiten zwischen 34 bis 41 km/h. Ein geiles Feeling, in einer gut harmonierenden kleinen Gruppe so rasch durch die Nacht zu pirschen. Auch wenn es regnet. Nur das eine Mal, als ich die Gruppe anführend auf das schön beleuchtete Schloss Vaduz aufmerksam machen will und dabei in eine Wasser-Rinne fahre, wird diese Idylle vom Gefluche meines Hintermanns etwas gestört.

Mit Anbruch des Tages sind Ruedi und ich bereits 16 Stunden unterwegs und haben rund 385 Kilometer zurückgelegt. Ein schönes Stück. Doch was wird der junge Tag noch an Überraschungen mit sich bringen?

Nebst mich um das körperliche Wohl zu sorgen, gilt es jetzt zudem nun dringlichst auch die technischen Probleme zu lösen und meine Schaltung wieder in Ordnung zu bringen. Denn bis Bern ist es noch weit, 227 Kilometer weit. Einen offiziellen Fahrradreparaturservice gibt es beim BBB nicht. Doch vorerst bin ich zuversichtlich, in dieser Garage nicht nur die nötigen Werkzeuge, sondern auch einen hinreichend begabten Mechaniker vorzufinden, der sich nicht nur mit Autos, sondern auch mit Zweirädern genügend auskennt.

So machen sich dann auch sofort ein Mann und eine Frau mit viel Engagement und Gerede an meinem Velo zu schaffen. Nach einer guten halben Stunde soll ich eine Proberunde auf dem Garagen-Areal drehen. Oh Schreck: Das Schalten geht nach wie vor gleich schlecht. Verschlimmgebessert! Nein, nein, das kann ich den beiden doch nicht vorwerfen. Sie haben sich ja wirklich Mühe gegeben. Ich bitte, die Umwerferflanken, die weit auseinander klaffen, etwas zusammenzudrücken und fahre dann nach über 40 Minuten weiter.

Sich quälen. Das Gebot der Stunde. Hier am Kerenzerberg. Eigentlich gar kein allzu steiler Pass. Ich bin ihn ja erst 3 Wochen zuvor noch gefahren. Doch jetzt, nach mehr als 400 Kilometern und dazu mit einer defekten Schaltung, ist alles ganz anders. Ich trete und trete. Hoch den Berg. Nur jetzt keine Fragen: Wie lange halte ich noch durch? Weshalb tu' ich mir das alles an? Wie viele Kilometer sind noch zu fahren? Wann wird das Wetter endlich besser? Nein, nein. Dies bringt die Moral ins Wanken, schwächt die Motivation, mindert das Selbstwertgefühl.

Man soll sich voll und ganz nur auf das konzentrieren, was man gerade tut, nämlich Radfahren. Das habe ich bei meiner mentalen Vorbereitung im Buch "Flow im Sport" gelesen. Was sich im Kopf abspielt, beeinflusst zu mindest 50% den Erfolg. Das meinte in einem Interview auch der Schweizer Martin Lorenz, 8. des diesjährigen RAAM (Race Across America), der uns in Bern auf die lange Reise geschickt hat. "Good luck, Guys", sagt er . Kurz dachte ich, hoffentlich sehe ich nicht auch so ausgemergelt aus, wenn ich wiederum hier in Bern zurück sein werde.

Endlich, ich bin oben, auf dem Kerenzer. Der Verlauf der Strasse ist kaum mehr auszumachen. Die Wolken hängen bis auf die Strasse herunter. 9 Grad, es windet stark. Kein Ort für langes Verweilen. "Bravo Marco, das hast du gut gemacht.", sage ich laut vor mich hin. Gewissermassen selbstmotivierend oder vielleicht auch nur zum vermeintlichen Selbstschutz vor allfälligen weitern Schwierigkeiten und Torturen, die da noch kommen könnten.

Denn während des Aufstiegs hat sich nämlich der Druck in meiner Bauchgegend in immer kürzerer Folge aufgebaut, den ich zwar seit etwa 4 Stunden jeweils "turbomässig" in Form von Luftbomben entladen konnte. Doch jetzt verspüre ich, das sich da zusätzlich noch etwas in festerer Form ankündigt. Doch zu welch einschneidenden Problemen sich das noch entwickeln würde, ist mir zur Zeit noch nicht klar.

Mit Hilfe der rechten Hand gelingt es mir, die Kette auf das grosse Blatt zu hieven. Die Abfahrt kann beginnen: Kopf runter, Beine an den Rahmen geklemmt, Lenker unten gefasst, Arsch in die Höhe und Tempo Teufel talwärts.
Schön aber kurz ist sie, die Abfahrt nach Näfels. Glücklicherweise, denn es bereitet mir etwelche Mühe, den Kopf ständig oben zu halten, um genügend weit vorausschauen zu können.

In Reichenburg glaube ich zu explodieren. Der Druck in meinem Bauch ist gewaltig. Ich hebe meinen Hintern vom Sattel und will vom Rad steigen. Geht nicht. Ich muss mich sofort wieder setzen, will ich das Schlimmste verhindern. Mit Sperberaugen suche ich nach einem eventuell schon geöffneten Restaurant. Vergeblich. Kein Wunder, es ist ja erst 7 Uhr morgens, und zudem noch Samstag. Ich fahre weiter. Buttikon - vorbei, Schübelbach - vorbei, Siebnen - hier, mitten im Dorf, oh Wunder, ein Veloladen! Ich stürme hinein, zeige dem Mechaniker meine Startnummer. "Bitte, könnten Sie mir schnell die Schaltung reparieren. Ich bin Teilnehmer des BBB und bereits seit gestern 13 Uhr unterwegs." "Am Stück?", fragt der verdutzte Mann. "Am Stück.", bestätige ich. Ein WC habe er leider keins und schickt mich über die Strasse. Ich eile, geradezu tänzelnd in meinen Rennschuhen. Quer durch das gut besetzte Kaffee erreiche in letzter Not das lang ersehnte Örtchen. Da bleibe ich vorerst, über 20 Minuten lang, sitzen. Schneller geht es einfach nicht.

Über den Hintereingang - zugegeben, mit einem etwas schlechten Gewissen - verlasse ich die befreiende Örtlichkeit. Denn Zeit für ein "Käfeli" habe ich ja eh nicht. Der Velohändler hat inzwischen ganze Arbeit geleistet. Für eine Zehnernote. Ich hätte ihm auch 50 gegeben. Die Schaltung funktioniert wiederum perfekt. Auch hinten hätte er noch etwas nachgestellt, brüllt er mir noch nach. Ich fahre, was das Zeug hält, zum nächsten Checkpoint. Woher nehme ich wohl die Kraft? Nach gut 10 Minuten treffe ich in Pfäffikon ein.

Ruedi hat tatsächlich auf mich gewartet. Ganze 40 Minuten lang. Was für ein Aufsteller! Ich beeile mich, lasse mein Roadbook abstempeln, muss dann notgedrungen schon wieder aufs WC. Schnell esse ich 1 Sandwich, 1 Banane, trinke Tee, fülle die Bidons und weiter geht's. Jedoch, nicht ohne zuvor noch einmal das vertraute Örtchen aufzusuchen. Was sein muss, muss eben sein.

Mein Schwager Wolfgang und Sohn Claude lösen hier meine Frau ab und sind mit dem Begleitfahrzeug schon startklar. Sie sind bis nach Bern nun meine Begleiter. So ist es zumindest geplant. Nächster Treffpunkt: Sattel Passhöhe.

Es folgt die schwerste Etappe, das "Pièce de résistance" hinauf nach Schindellegi über den Sattelpass nach Emmen. Die Route führt nicht etwa über die moderat ansteigende Hauptstrasse, sondern des Verkehrs wegen erst nach Bäch und dann über Wollerau hinauf nach Schindellegi. Was für Rampen treffen wir da an? Rampen, immer steiler ansteigend, ohne Ende. Im Wiegetritt und im kleinsten Gang erklimme ich eine um die andere. Der Compi zeigt zuweilen bis zu 15 Steigugsprozente! Ich erinnere mich zurück an den Blumberg im Schwarzwald. Der war vielleicht ähnlich steil. Doch waren es dort lediglich 2 Rampen und man war noch bei Kräften. Hier, nach 460 Kilometern, sind es deren 4. In Schindellegi muss ich schon wieder mal absteigen. Dringendst! Ich stürme ein Sportgeschäft. Die Verkäuferin verweist mich um die Ecke zu einer Autowaschanlage. Dauer der Sitzung: nochmals 20 Minuten.

Weiter geht's, in Richtung Passhöhe. Kurz vor Biberbrugg, auf dem 2-spurigen Schnellstrassenabschnitt, da wo Autos und Motorräder meist mit übersetzter Geschwindigkeit an einem vorbei "blochen", genau da erleide ich einen Plattfuss am Hinterrad. Mein Begleitfahrzeug muss ich mittels Handy hierher zurück lotsen. Das dauert wiederum einige Zeit, weil die Strassenmitte durch Leitplanken getrennt ist. Da an eine Reparatur an dieser exponierten Stelle nicht zu denken ist, beschliesse ich spontan, auf das Ersatzrad zu wechseln, obschon das Gefährt über 1 Kilo mehr wiegt, mein Hinterteil den Sattel überhaupt nicht kennt und der Lenkervorbau 1,5 cm länger nach vorne ragt. Weitere Leiden wie etwa Sitz- und Rückenbeschwerden könnten sich früher oder später bemerkbar machen. - Stopp! Was stand da in "Flow im Sport"? "Keine in die Zukunft gerichtete Gedanken hegen. Volle Konzentration auf die Gegenwart, auf das, was gerade abläuft. Diesen Fokus aufrechtzuerhalten bedeutet, voranzukommen." Vorankommen - was will ich denn mehr!

Also los. Mit neuer mentaler Stärke steige ich wieder aufs Rad. Die ersten 200 Meter werden nach jedem Halt mühsamer. Vor allem die Beine schmerzen da extrem. Doch danach geht es jeweils wieder besser, und ich finde die nötige Konzentration: Stimmt die gewählte Übersetzung? Ist mein Tritt auch schön rund? Nicht nur in die Pedale stampfen, sondern auch ziehen. Kleinste Gänge sind nun angesagt. Die hält man mit weniger Kraft in Schwung. Auch Jan Ullrich hat dies von Lance Armstrong lernen müssen. Vorbei die Zeiten der fetten Gänge à la Bernhard Hinault. Das bescherte ihm ja ständig Knieprobleme. Und auf solche kann ich wahrlich verzichten.

Ich ermahne mich, regelmässig in den Wiegetritt zu gehen. Dadurch werden andere Muskelgruppen aktiviert. Dies schafft Entlastung für Körper und Arsch, der - trotz Zwischenbehandlung mit Assos-Sitzcrème am Checkpoint in Rheineck - längst aufgeschürt und angeschwollen ist. Doch diese Wiegetritt-Einlagen werden immer häufiger und kürzer. Es fehlt mir ganz einfach die nötige Kraft, sitzend die letzten Höhemeter auf den Sattel-Pass zu bewältigen. Und es kostet mich sehr viel Überwindung, jetzt nicht einfach abzusteigen und aufzugeben. Doch gerade hier, an der letzen Rampe, bei Schwyzerbrugg: "Da kannst du doch nicht einfach absteigen, Marco!", sagt mir eine innere Stimme oder vielleicht ist es mein schlechtes Gewissen. Nein, nein. Kommt überhaupt nicht in Frage. Und gerade hier, ganz bestimmt nicht. Diese letzte "Sau-Rampe", die werde ich doch wohl noch besiegen. Hoch den Arsch, drücken - ziehen - drücken - ziehen - drücken - ziehen - drücken - ziehen ... und oben bin ich. Ich hab's geschafft. Keuchend zwar, mit Pulswerten bis 144 - mehr liegt einfach nicht mehr drin. Der Schweiss brennt wie Säure in den Augen. Was bedeutet: Es hat aufgehört zu regnen. Ein willkommener Aufsteller. Denn des nassen und kalten Wetters, nunmehr seit zig Stunden - obschon ich in Rheineck um 1 Uhr morgens trockene Unterwäsche und Socken angezogen habe - bin ich nun wirklich überdrüssig.

Doch mein Hauptproblem, der Dünnpfiff, bleibt vorerst bestehen: Und sollte es mir nicht gelingen, in kürzester Bälde die zugeführte Nahrung im Körper zu behalten, um wiederum zu Kräften zu kommen, ein
Durchkommen bis nach Bern (fast) nicht möglich sein würde. Das wird mir plötzlich bewusst. Die Bilder Tony Romingers an der Tour de France gehen mir durch den Kopf, als er deswegen im Besenwagen Platz nehmen musste.

Doch wie kann ich diesen "Durchfluss" denn stoppen? Was muss ich bei meiner Verpflegung allenfalls ändern?

Auf der Abfahrt Richtung Zugersee kann ich mich vorerst etwas erholen. Ich verpflege mich mit Banane, Sponser-Liquid-Energy, trinke mit mehrkettigen Kohlenhydraten angereichertes Wasser. Zudem kommt erstmals die Sonne hervor, was mich sofort dazu bewegt, meine Regenklamotten auszuziehen. Eine neue Frische geht durch meinen Körper. Alle Leiden und Schwächen scheinen auf der Stelle wie weggeblasen. Ich übernehme die Führung und trete mit aller wiedergefundenen Kraft in die Pedalen, da ich - auch Ruedi zuliebe, der immer geduldig und einfühlsam auf mich wartet - möglichst viel von der verlorenen Zeit wieder gut machen will. So geht es im Schnellzug mit 34 bis 45 Sachen Richtung Emmen. Herrlich, so Rad zu fahren, wenn man gut drauf ist. Ob des flotten Tempos verpassen wir dann prompt die Abzweigung zum Checkpoint und verlieren dadurch wiederum ca. 15 Minuten.

Dieser Highspeed ist jedoch nur von kurzer Dauer. Obschon ich hier in Emmen fürs Leben gerne Spaghetti, Reis oder Kartoffeln essen würde - etwas Handfestes also - muss ich wiederum mit der üblichen Checkpoint-Kost vorlieb nehmen: Banane, Biber, Bouillon, isothonische Getränke oder Tee. Ach ja, fast hätte ich's vergessen: Es wird da auch noch Traubenzucker feil geboten, der, wie bekannt, sofort Energie bringt, doch durch den starken Anstieg des Blutzuckers, schon sehr bald nachgeschoben werden muss, will man nicht endgültig im Leistungstief untergehen.

Folglich beisse ich mich halt weiter ohne diese gut gemeinten Power-Tabletten durch, so gut es eben geht. Phasenweise mit lauten, motivierenden Selbstgesprächen und mit grösster noch möglicher Konzentration auf das Hier und Jetzt. Einige Kilometer später ertappte ich mich bei negativen Gedanken: Ich mag nicht mehr, ich kann nicht mehr. Laut brülle ich: "Stopp! Das schaffst du, Marco. Ich schaffe es. Ich schaffe es.", während 1 Fahrer, der aufgrund seiner Startnummer lediglich den 300 Kilometerparcours absolviert, und relativ locker, mit Musik im Ohr, vorbeifährt und in freundlich, breitem Berndütsch fragt: "Geit's no?". "Ja, ja, es gaht. Danke!", antworte ich spontan. Na also, wer sagt es denn? Es geht ja wirklich irgendwie weiter - wenn gleich schon längst wiederum Ausschau haltend, nach dem stillen Örtchen oder, sollte es nicht mehr anders gehen, nach abschirmenden Büschen. Und so bewältige ich mit letzter mobilisierbarer Kraft und nach einem weiteren notdürftigen Intermezzo, - wo ich Ruedi auffordere, alleine weiter zu ziehen - den Aufstieg nach Affoltern.

Nach der obligaten Sitzung am letzten Checkpoint, begebe ich mich zum Verpflegungszelt: Welch wunderschöne Käseplatten stehen da bereit. Eine kulinarische Augenweide. Daneben frisches, dunkles Holzofenbrot. Etwas Handfestes also. Herzhaft lange ich zu. Denn meine digestiven Störungen können gar nicht mehr schlimmer werden, denk' ich mir.
Fragt mich da ein Fahrer der Samstagtour: "So, hast du den 600er gemacht?" "Ja, klar.", antworte ich. "Genau so siehst du mir aus." "Ich weiss, dass ich momentan eher aussehe, als wäre ich sogar 700 Kilometer gefahren. Aber glaube mir, spätestens am Dienstag wird sich das wieder normalisiert haben.", entgegne ich. "Nein, im Ernst. Ich glaubte wirklich, du hättest nur den 300er gemacht . Chapeau!"

Dieses Vorkommnis ist für mich ein Motivator "par excellence". Zudem bekommt mir die bodenständige Kost ausgezeichnet, wie ich merke. Mein Magen reklamiert nicht mehr. Ich spüre meine Kräfte wachsen. Nahezu euphorisch schwinge ich mich aufs Velo und nehme die letzten 35 Kilometer nach Bern unter die Räder. Erstmals wage ich es, ans Ziel zu denken. Ja, was soll denn jetzt noch schief gehen? Obschon mir alles weh tut, Beine, Rücken, Nacken, Arme und natürlich auch der Allerwerteste, fühle ich mich gut. Volles Rohr fliege ich Bern entgegen. Und plötzlich ist sie da, die blaue Ortstafel mit den 4 Buchstaben. Wunderschön strahlt sie im abendlichen Sonnenlicht. Ich kann es fast nicht glauben.
Doch, es stimmt wirklich. "Bern - du hesch mi wider!", schreie ich aus voller Brust. Ich schluchze. Meine Augen überquellen. Ein starkes Gefühl von Genugtuung und Demut ergreift mich: Der Lohn für das Durchhalten. 609 Kilometer weit, 29 Stunden und 48 Minuten lang.
Hart aber schön war sie, die BBB 2003. Und wenn's mir meine Gesundheit erlaubt, so komme ich nächstes Jahr, mit 57 Jahren dann, wieder. Es gilt, noch einiges zu verbessern.
Ich glaub', ich bin ein Randonneur geworden.
Marco Bertschinger

Danksagung
Ich möchte die Gelegenheit nutzen, mich bei all denen zu bedanken, die mich bei diesem Abenteuer unterstützt haben. Allen voran bei meiner Frau Dana, die die ganze Nacht hindurch hinterher gefahren ist, um den Weg auszuleuchten. Ohne diese wertvolle Unterstützung hätte ich nicht so schnell fahren können. Der Schwägerin Yvonne, die in der Nacht während einigen Stunden mit ihr telefoniert hat, damit sie am Steuer nicht einschläft. Dank auch an meinen Schwager Wolfgang und Sohn Claude, die mich aus dem Begleitfahrzeug moralisch und materiell unterstützt haben. Einen besonderen Dank möchte ich auch meinem Randonneur-Freund Ruedi Frey entrichten, der bis fast zum Schluss immer mit viel Verständnis und Geduld auf mich gewartet hat. Das gab mir immer wieder Kraft und Moral zum Durchhalten. Last but not least möchte ich mich bei allen Helferinnen und Helfern an den Checkpoints für ihre grosse Arbeit und die stets freundliche und umsorgende Art bedanken. Eine spezielle Anerkennung gebührt natürlich auch den beiden Initianten Thomas Hügli und Fritz Blindenbacher, ohne die wir in der Schweiz um einen TOP-RADEVENT ärmer wären.