Radmarathon Bern–Bodensee–Bern vom 5./6. Juli
Kleine Ermutigung
Armin Köhli
Eine Velofahrt von 614 Kilometern an einem Stück – ist das mehr als Qual und Schmerz? Ist es überhaupt zu schaffen? Ein Dreissig-Stunden-Selbstversuch.

Bei Kilometer 480, um fünf Uhr morgens, geht gar nichts mehr. Die Abfahrt vom Sattel zum Zugersee hat gerade begonnen. Seit etwa zwei Stunden regnet es. Mir ist kalt. Ich muss anhalten und lasse mir aus dem Begleitfahrzeug den Faserpelz geben, das letzte wärmende Kleidungsstück, das ich noch zur Verfügung habe. Mittlerweile bin ich angezogen wie bei einer Trainingsfahrt im Januar. «So komme ich noch runter bis nach Arth», denke ich, «dort setz ich mich ins Auto.» Ich kann die Beine nicht mehr drehen, bringe keinen Kreis mehr zustande. Denn vor einigen Stunden begann zwischen meinen Beinen, im Schritt, eine Operationsnarbe zu schwellen. Nun ist die Narbe dick wie ein Daumen. Sitzen wurde zur Qual, ich fahre praktisch ständig im Wiegetritt, aus dem Sattel gehend, auch in der Ebene und in den Abfahrten. Im Flachen im Wiegetritt fahren, das heisst mit Kraft einige Tritte beschleunigen, dann mit Treten aussetzen und rollen lassen und wieder mit Kraft beschleunigen. Jede Souplesse ist längst verloren, ich kann nur noch grosse Gänge fahren, weniger Pedalumdrehungen pro Kilometer, dafür mit – erstaunlicherweise immer noch vorhandener – Kraft. Vielleicht siebzig Umdrehungen pro Minute sind es noch. Dieses kräftige Antreten, immer wieder von neuem, dieses eigentliche Stampfen, zerstört den Tretrhythmus, den «runden Tritt». Es verunmöglicht schliesslich das regelmässige Kreisen der Beine.
Am ehesten ist es noch in den Steigungen auszuhalten. Die Sitzposition verändert sich leicht, wenn es recht steil bergan geht, da kann ich relativ lange sitzen bleiben und die Beine gleichmässig drehen. Aber wenn dann die Abfahrt kommt ... Oder welliges Gelände, hoch, runter, hoch, runter, mit ständigen Rhythmuswechseln, so halte ich Sitzen kaum zwei Minuten aus.

Los gings in Bern am Vortag, um sieben Uhr morgens. Bereits nach einigen Kilometern, in der allerersten Steigung zum Grauholz hoch, verlor ich den Kontakt zum kleinen Grüppchen der sieben gleichzeitig Startenden. Schon aus wars mit dem Versuch, andere Fahrer zu finden, die den gleichen Rhythmus haben, erfahrene Fahrer, die das Ganze langsam angehen, mit denen man sich die Arbeit teilen kann, mit denen man sich gegenseitig stundenlang Windschatten geben kann. Denn ich hielt mich strikt an meinen Plan: Puls 120 bis 130, aber auf keinen Fall und keinen Schlag über 140. Das ist das Wichtigste: nicht zu schnell beginnen! So übergab ich mich der Diktatur des Pulsmessers. Das bin ich mich ja gewohnt, aber andersrum – normalerweise quäl ich mich, damit der Puls nicht zu tief sinkt, stundenlang.
Noch etwa eine Stunde lang blieben die anderen sechs Fahrer meiner Startgruppe in Sichtweite. Das war insofern beruhigend, als ich mich immer auf der richtigen Strecke wusste. An die Markierungen muss man sich erst mal gewöhnen, und bei einem langen Abschnitt ohne Markierung tauchen Zweifel auf, ob man auf dem richtigen Weg ist. Acht Stunden später, kurz vor Ramsen, holte ich das Grüppchen wieder ein. Das war die euphorische Phase. So von Kilometer 200 bis 260. Alles lief rund, schnell, blauer Himmel, Fernsicht, Hitze, Sonnenschein, ein Lied auf den Lippen. Sang ich am Anfang noch muntere Punk-Songs, wechselte ich mit der Zeit zu eher repetitiven Liedern («Geh weida, immer weida, Bua»). Und landete schliesslich bei Wolf Biermanns «Grosser Ermutigung»: «Ach, wann haben diese Leiden, diese Leiden, diese Leiden endlich mal ein Ende?» Dabei war ich durchaus noch fröhlich. Denn als das Leiden wirklich begann, sang ich nicht mehr. In meiner Euphorie überholte ich das Sieben-Uhr-Grüppchen sogar. 50 Kilometer später holten sie mich wieder ein, nun fuhren wir doch noch zusammen, und schliesslich trafen wir gemeinsam in Rheineck ein. Kilometer 320, acht Uhr abends, dreizehn Stunden nach dem gemeinsamen Start.

Unten, am Zugersee, fehlen noch 5 Kilometer bis zur Zahl 500. Die möchte ich noch schaffen. Für diese Teilstrecke habe ich sogar einen Begleiter mit Velo. Bei Kilometer 500 halten wir an, Pinkelpause, und besprechen uns. Noch 23 Kilometer bis zum nächsten Checkpoint in Emmenbrücke. Das ist zu weit. Doch immerhin, auf den paar flachen Kilometern am Zugersee konnte ich die Beine wieder drehen. Ich versuchs noch mal, denke in 10-Kilometer-Abständen. Weiter. 10 Kilometer später eine neuerliche Pause. Ich esse eine Banane und komme ins Zittern: Feste Nahrung überfordert den Körper. Jetzt habe ich Angst vor einem Zusammenbruch. Aber es geht, ich kann die Banane fertig essen. In dem Moment überholt uns ein anderer Fahrer. Wir steigen wieder auf, den Überholer in Sichtweite. Bei einem Lichtsignal holen wir ihn ein. Ich sehe sein Hinterrad und klemme mich dran, eingeübt, eintrainiert, in harten Rennen erfahren. Das Hinterrad, das Hinterrad, das Hinterrad. Nicht loslassen, dran bleiben, das Hinterrad halten. Ich halte das Hinterrad bis Emmenbrücke, endlose 13 Kilometer in zügigem Tempo, die Beine drehen schlecht und recht.

Ich fuhr fast die ganze Strecke alleine. Aber immer wieder trifft man sich, überholt man sich oder plaudert an den Checkpoints ein paar Minuten, bevor sich die einen wieder aufmachen. Viele übernachten in Rheineck, und mit dem Eindunkeln ändert sich die Stimmung. Die Begegnungen werden seltener, an den Checkpoints sind nur zwei, drei Fahrer gleichzeitig (nur zwei Frauen nahmen am Marathon teil). Tief in der Nacht wirken Begegnungen gespenstisch und sind gleichzeitig ein Zeichen, dass man nicht alleine ist. Überhaupt kein Verkehr, aber einzelne Velofahrer mit knappem Licht, alleine oder zu zweit, meistens begleitet von einem Auto, das den Weg beleuchtet. Mein Vorderlicht gab schon nach weniger als vier Stunden den Geist auf, ausgerechnet in der Abfahrt vom Kerenzerberg. Das Begleitauto fuhr dummerweise vor mir, und so stand ich schliesslich still im finsteren Wald und sah gar nichts mehr. Per Telefon holte ich das Auto zurück und liess mir die Abfahrt leuchten – nach jeder 180-Grad-Kurve für einen kurzen Moment erneut im Dunkeln.
Ob man Bern–Bodensee–Bern wirklich fahren will, überlegt man sich wochenlang. Vielleicht lässt sich die Entscheidung ja erleichtern, ein Teil der Verantwortung abschieben? Roland, mit dem ich einen 200-Kilometer-Marathon gefahren bin, mailt mir aber bloss zur Antwort: «600 Kilometer? ... Bin vielleicht doch ein Weichei.» Also alleine fahren? Kommt nicht in Frage! Oder doch? Da gäbe es ja auch die Möglichkeit, bei Streckenmitte ein paar Stunden zu ruhen, zu übernachten. Sicher ist: Ganz alleine schaffe ich das nicht. Manuela sagt zu, mich mit dem Auto zu begleiten. Das ist gut für die Moral, für den Transport von allerlei, für den Notfall. Also doch. Ich beginne, mich ernsthaft damit auseinander zu setzen. Die Strecke etwas genauer zu studieren. Die Mustermarschtabelle nachzurechnen. Die Rangliste des letzten Jahres anzuschauen. Viele haben aufgegeben. Ich beginne, mein Trainingsprogramm anzupassen. Nicht mehr kurze Tempotrainings, sondern nun wieder stundenlange Grundlagentrainings, mit kürzeren Spitzen und längeren Abschnitten am Berg, zur Kraftausdauer. Setze mir zwei recht lange Fahrten als Gradmesser: Wenn ich die gut hinter mich bringe, könnte ich es ja versuchen. Übernachten will ich jedenfalls nicht. Wenn schon, denn schon. Nach der fünfstündigen Test-Trainingsfahrt bin ich ganz schön fertig. Erhole mich zwar schnell und gut, aber trotzdem. Wie ist das wohl nach Stunde zehn, entlang dem Bodensee? Das Rheintal hoch bis Sargans, im Gegenwind? Mitten in der Nacht, mit 400 Kilometern in den Beinen, den Kerenzerberg hoch? Oder werde ich ihn gar nie zu sehen bekommen? Noch nicht einmal das Rheintal? Wie soll ich mir Kilometer 350 bis 400 vorstellen, wo ich einigermassen weiss, wie sich Kilometer 120 bis 150 anfühlen? Das Minimalziel: mehr als 300 Kilometer fahren (sonst bin ich echt enttäuscht). Das Hauptziel: Ankommen! Aber wie rette ich mich, wenn ich schon nach 150 Kilometern aufgebe? Wenn ich nie mehr ein Velo anfassen will? Was, wenn ich nach 585 Kilometern einfach nicht mehr weiterkann? Immer wieder schaue ich den Streckenplan an, obwohl ich kaum einen Abschnitt kenne. Nähere mich der Strecke an, rechne mir die Fahrzeiten für die einzelnen Abschnitte aus. Versuche mir vorzustellen, wie viel Pause ich an den einzelnen Checkpoints brauche. Was ich dort essen will und kann. Auf Erfahrungen kann ich mich nicht verlassen. Und wie muss ich mein Velo vorbereiten? Welche Ersatzteile mitnehmen? Soll ich ein ganzes Ersatzvelo dabeihaben, falls, was weiss ich, der Lenker bricht? Welche Gänge montieren? Schliesslich der wichtigste Trick für die Moral: sich freuen! Judihui, ich fahre einen Tag lang Velo, einen schönen Sommertag lang, judihui, auch noch die Nacht und den nächsten Morgen, judihui, schon 100, schon 200, schon 400 Kilometer. Wer sich fürchtet, hat schon verloren. Das ist in den kurzen Rennen das Gleiche: Wenn ich mich frage, warum quäl ich mich diesen Hügel hoch, dann ists gelaufen. «Toll, jetzt kommt der Hügel, da fällt die Entscheidung, und ich bin so stark an diesem Hügel» – so gehts!

Von Emmenbrücke bleiben noch neunzig Kilometer bis Bern. Am Checkpoint steige ich ins Auto. Setze mich in den regen- und schweissnassen Sachen auf den Vordersitz und schlafe augenblicklich ein. Nach einer halben Stunde wache ich auf. Nein, zu früh. Ich schlafe eine weitere halbe Stunde und stehe danach sofort auf. Reibe mir die Augen und setze mich aufs Velo. Es geht gleich steil bergan, und ich merke, dass ich mich recht gut erholt habe. 20 Kilometer geht es ordentlich. Etappenziel ist Affoltern, hoch über dem Emmental. Stetig schleicht es hoch, Sitzen geht nicht mehr, die Beine drehen wieder weniger elegant. Ein in den Schritt der Radhosen gelegtes Rindsplätzli hilft wenig. Ich zähle jeden einzelnen Kilometer. Im Schlussaufstieg nach Affoltern sage ich: «Ich mag nicht mehr.» Doch oben, am nächsten Checkpoint, ist die Stimmung gelöst, man reicht mir sogleich ein Emmentaler Jogurt und plaudert los. Bis Bern sind es noch 34,7 Kilometer, meistens abwärts. Das wird gehen.
Während des Marathons habe ich etwa elf Liter Wasser mit gelöstem, kohlenhydratreichem Maltodextrinpulver getrunken, einige Gläser Fruchtsaft, drei Tassen Kaffee, drei Tassen Bouillon. Während der Fahrt schlürfte ich zwanzig Tuben Kohlenhydrat-Gel, ass vier oder fünf Bananen, einen Teller Pasta, ein Stück Kuchen, einen Drittel eines riesigen Appenzeller Bibers und zwei Sandwiches. Die letzten Kilometer von Affoltern nach Bern-Wankdorf fahre ich wieder im Wiegetritt. Ein paar Tritte beschleunigen, rollen lassen, ein paar Tritte beschleunigen, rollen lassen. Irgendwie gehts. Ich erreiche das Ziel um 13.09 Uhr. Nach dreissig Stunden und neun Minuten. Zehn Minuten später, als ich mir zum Ziel gesetzt habe.